Das „positive Denken“ hat in den letzten Jahren eine große Karriere hingelegt: Ob Frauen-Zeitschrift oder Talkshow, Lebenshilfe-Literatur oder Selbsterfahrungs-Workshop, Facebook oder Instagram-Filmchen – alle sind sich einig: Wann immer es darum geht, mit den Problemen und Unwägbarkeiten des Lebens zu Rande zu kommen, hilft eines auf jeden Fall: positiv denken!
An Probleme zu denken schaffe nur Probleme, heißt es, also denkt man lieber an Friede, Freude, Eierkuchen – und schon hat man Friede, Freude, Eierkuchen. Wir können uns alles so zurechtdenken, wie wir es brauchen, lautet die Psycho-Ideologie unserer Zeit.
Wozu sich mit sich selbst befassen, wozu sich mit den Wahrheiten und Lügen der Herkunftsfamilie herumschlagen, wozu jahrelang in einer Therapie das hübsch verpackte Elend der Kindheit durcharbeiten, wenn es doch auch ein Online-Kurs „Positiv denken“ am Sonntagnachmittag tut.
Da bekommt man von einem ohne Punkt und Komma plappernden Experten „10 Hacks“ verabreicht, wie man sich ruckzuck und rückwirkend eine glückliche Kindheit zusammenbasteln kann. Ganz einfach mit positivem Denken – und schon ist alles gut: Man wird erfolgreich, verdient mehr Geld, findet den passenden Partner, bekommt den Traumjob, nimmt ab ...
Doch da ist noch etwas, das sich Wirklichkeit nennt. Das ist das, was sich außerhalb der Lebenshilferatgeber, Instagram-Reels und Online-Psycho-Quickies erreignet.
Und darum geht es: Wirklichkeit und Wahrheit! Wer behauptet, man könne, was einem in frühen Jahren durch Eltern und Geschwister widerfahren ist, durch etwas „positives Denken“ loswerden/korrigieren/überwinden/verarbeiten, der ist – vornehm formuliert – ein Scharlatan.
Was braucht es zum „positiven Denken“? Den Willen, sich selbst zu betäuben und zu belügen. Das ist verständlich. Doch es hilft nicht. Was braucht es, um der Wahrheit über sich selbst ins Auge zu sehen? Mut!
Mut, all die Scham und Wut, all die Angst, Einsamkeit, Verlassenheit endlich wahrzunehmen, die man sich als Kind aus „Rücksicht“ auf Mama oder Papa nicht gestattet hat.
Sie merken, werte Leser, daß mir bei diesem Thema der Puls hochgeht. Denn ich erlebe es immer wieder, daß mir Klienten, denen der emotionale Schmerz aus allen Poren quillt, freundlich lächelnd erzählen, sie hätten eine glückliche Kindheit gehabt.
Da ist die ganze Familie erstarrt und verstummt, wenn der Vater heimkam. Aber man hatte eine glückliche Kindheit. Ja, Papa hat herumgebrüllt und auch mal die Hand erhoben, aber eigentlich war er nett. Ja, der Bruder hat einen gedemütigt und gepiesackt wann immer es ging, doch er ist ein Charmebolzen. Ja, die Mutter war nur physisch anwesend und man konnte ihr seine Sorgen nicht anvertrauen, doch sie hat immer Kuchen gebacken und einen zum Ballett gefahren.
Wenn mir eine Klientin erzählt, wie sie als Kind mißbraucht wurde und dabei sanft lächelt, als erzähle sie von einem heiteren Kindergeburtstag, und ihre Geschichte beendet mit einem: „Aber man muß ja positiv denken!“, dann möchte ich all den Positiv-Denken-Gurus eine Ohrfeige geben. Mindestens eine ...
„Man muß positiv denken!“ bedeutet: Ich bin selbst schuld daran, daß es mir schlecht geht. Wenn ich positiv denken würde, ginge es mir besser. Ich bin ein Versager, wenn ich es nicht schaffe, positiv zu denken. Darauf läuft das Positiv-Denken hinaus.
Letztlich bedeutet es, daß wir glauben, der Wahrheit und der Wirklichkeit nicht gewachsen zu sein. Deshalb müssen wir sie uns schöndenken. Die Angst vor der Wahrheit unseres Lebens blockiert unsere Reifung und Heilung.
Emotionale Narben müssen ebenso entstört werden wie körperliche. Dazu braucht es vollständiges Denken. Und das geht nur, wenn wir die ganze Wahrheit wahrnehmen und spüren und durchdenken. Wenn wir die Finsternisse und die Schatten unserer Herkunftsfamilie nicht wahrhaben wollen, behalten sie ihre Macht über uns und wir geben sie an unsere Kinder weiter.
Der andressierte, verkrampfte Optimismus des postiven Denkens verhindert Wachstum, verhindert, daß wir wirklich hinsehen, was mit uns von wem gemacht wurde und wie sich das auf unser Leben bis heute auswirkt, wie es uns blockiert und behindert, quält und unglücklich macht. |