Seitenblick - Der Newsletter von Odysseus Kinesiologie & Coaching

Verbote, Moral und gesunde Wut

Meine Themen heute für Sie: Verbieten Sie sich das Verbieten – es lähmt und behindert | Groß in Mode: Moral statt Denken | Ein Gemälde für Sie: „In flagranti“ | Wut ist verpönt, doch sie fordert und fördert unser Lebendigkeit. Viel Vergnügen beim Lesen. 

Eine Bitte: Wenn Sie jemand kennen, den das, was ich hier erzähle, interessiert, leiten Sie ihm diesen Newsletter weiter. Dankeschön.

Wolfgang Halder, Odysseus Kinesiologie & Coaching

Verbieten, sofort verbieten!

Ganz vortrefflich! Sofort verbieten! Das soll der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich nach der Lektüre von Heinrich HeinesReisebildern gesagt haben. So landete Heine – dank Metternichs guten Kontakten zur Inquisition – auf dem Index der verbotenen Bücher, dieser Ehrenliste freier Geister, und war dort neben Spinoza, Kant und Kopernikus in bester Gesellschaft. Hitler hat es mit Mein Kampf nicht auf den Index geschafft, der Großteil seiner Thesen verletzte keine katholischen Werte …

Verbote lähmen: unseren Geist, unser Herz, unsere Handlungen. Sie verhindern, daß wir unsere inneren Reichtümer erschließen und uns entfalten. Und: Hinter (fast) jedem Verbot steht jemand, der davon profitiert, daß andere sich daran halten.

Was steht bei Ihnen auf dem Index, auf Ihrer inneren Verbotsliste? Hier sind einige Klassiker unserer Kultur, die uns das Leben schwer machen, weil sie unser Wachstum behindern, damit andere uns besser lenken und benutzen können.

Verbote, man selbst zu werden: Denk zuerst an die anderen, nicht an dich. Nimm dich nicht so wichtig. Eigenlob stinkt. Stell dich nicht in den Mittelpunkt. Sei bescheiden. Stolz ist eine Todsünde. Laß anderen den Vortritt. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Füg dich ein. Fall nicht auf. Das macht man nicht.

Verbote, selbst zu fühlen: Sei nicht traurig. Hör auf zu weinen. Heul nicht rum. Sei nicht so wild. Lach nicht so laut. Du wirst doch keine Angst haben. Mach ein Pokerface. Zeig dich nie verletzlich. Sei stark. Zeig nicht, was du fühlst. Ein Indianer kennt keinen Schmerz (dazu neu: „Indianer“ sagt man nicht!).

Verbote bestimmter Interessen: Schuster bleib bei deinem Leisten. Ein Junge spielt Fußball – nicht Geige. Frag nicht so viel. Sei nicht besser als andere. Sei nicht erfolgreicher als dein Vater. Sei nicht schöner als deine Mutter. Sei nicht so neugierig. Ich hatte auch keinen Klavierunterricht. 

Verbote im menschlichen Miteinander: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Was, das ist dein Freund!? Die ist kein Umgang für dich! Max ist doch so ein Netter, warum befreundest du nicht mit ihm? Mußt du immer mit denen herumhängen? Der ist nicht geimpft! Der ist geimpft!

Verbote in bezug der eigenen Selbstbestätigung: Das schaffst du allein. Das schaffst Du nie. Die anderen machen das auch so. Deine Meinung interessiert uns nicht. Wir betteln nicht um Anerkennung. So machen das alle. Fühl dich nicht liebenswert. Prahl nicht herum.

Sie haben sich beim einen oder anderen Verbot auf dieser Liste erkannt? Glückwunsch! Nun können sie anfangen, sich das Verbieten zu verbieten und der zu werden, der Sie sind.

Moral frißt Denken

Sie haben bestimmt schon vom Eisberg-Modell der Kommunikation gehört. Da wird unterschieden zwischen der Sachebene (der kleinen Spitze des Eisbergs über der Oberfläche) und der Beziehungsebene(dem großen Teil unter Wasser). Und es wird behauptet, die Sachebene mache nur 20 Prozent unserer Kommunikation aus.

Dieses Eisberg-Modell ist der Lieblings-Fetisch aller Denkfaulen. Besonders beliebt ist es in Psychologen-, Trainer- und Coaching-Kreisen. Da richtet es viel Schaden an, denn es taugt bestens dazu, Sach-Debatten zu vermeiden, indem man alles auf die Beziehungsebene schiebt. 

Viele Menschen meiden Sachkonflikte, weil sie intellektuell und emotional nicht der Lage sind, einen Sachkonflikt zu führen und auszuhalten.

Das Mittel für Sachkonflikte sind Diskussion und Debatte. Und Debatten sind, wenn sie denn gut und fruchtbar sind: hart, direkt, offen, aggressiv, geistreich, gebildet, einfallsreich, intensiv, fordernd und leidenschaftlich. Sie sind wie ein Fecht-Duell – und sie können tödlich enden. Intellektuell tödlich, weil einer den entscheidenden Stich setzt, der allen zeigt: touché, die Argumente von X sind besser als die von Y. In Sach-Debatten gibt es Sieger und Verlierer – und das ist gut so.

In meiner Generation (frühe Sechziger) beherrschen die Kunst der Sachdebatte noch viele. Sie flüchten bei Sachkonflikten nicht in den Wischiwaschi-Psycho-Jargon („Du hast da ein Problem“), sondern stellen sich der Debatte der Inhalte. Weil sie es können. Doch das ist leider eine aussterbende Fähigkeit.

Der Standard heute ist: beleidigt sein, verletzt sein, enttäuscht sein usw. – eben das ganze Repertoire der infantil-regressiven emotionalen Erpressung, zu der Menschen greifen, wenn sie intellektuell und argumentativ einer Debatte nicht gewachsen sind. 

Wir haben keine Debatten-Kultur mehr. Nicht im Bundestag, nicht an den Universitäten, nicht in der Wissenschaft, nicht in den Medien, nicht in den Firmen. Das ist ein Trauerspiel und soziohistorisch ein erforschungswürdiges Dekadenz-Phänomen.

Was haben wir statt dessen? Eine moralisierende Jammer- und Verurteilungs-Unkultur. Der Wert eines Arguments wird nicht an seiner Stringenz gemessen, sondern hängt von Geschlecht, Rasse, sexueller Ausrichtungpolitischer Einstellung und dessen ab, der es äußert. Also von Dingen, die für die Stichhaltigkeit eines Arguments genauso entscheidend sind wie Schuhgröße und Haarfarbe.

Wer dieses Spiel mitspielt, behindert sein persönliches Wachstum.

Mein Michelangelo (10 und Schluß): „In flagranti

Hier stelle ich Ihnen heute zum letzten Mal ein Werk des Malers meiner Praxis-Gemälde, Frank Krüger, vor. Heute: „In flagranti“  (Öl auf Leinwand, 40x40 cm).

Heute keine Assoziationen dazu, sondern ein Hinweis: Dieses Gemälde hängt bei mir im Schlafzimmer. Nun dürfen Sie Ihrer Fantasie die Zügel schießen lassen ...

Lesefrucht: Wut ist ein Zeichen der Lebendigkeit

Wütend dürfen wir nicht sein. Wut gehört sich nicht. Wütend sind nur primitive Menschen. Feine, gebildete Menschen werden nicht wütend. Also lernen schon Kinder, ihre Wut zu überspielen und zu unterdrücken. Folglich können sie auch als Erwachsene mit diesem Gefühl nicht angemessen umgehen – und das macht sie krank.

Dabei ist Wut eine der sieben Grundemotionen, die alle Menschen auf der Welt teilen: Trauer, Angst, Freude, Ekel, Überraschung, Verachtung, Wut. Es ist zutiefst vernünftig, emotional zu sein, denn Emotionen sind der Antrieb unseres Lebens. Alle wichtigen Entscheidungen, die wir treffen, sind emotional motiviert.

Die Wut gehört zu unseren vernünftigen Gefühlen, wir sollten auf sie hören. Dazu müssen wir sie zunächst wahrnehmen und zulassen. Dann hat sie uns viel zu sagen.

Heidi Kastner, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie seit vielen Jahren Gerichtspsychiaterin, bricht in ihrem Buch Wut – Plädoyer für ein verpöntes Gefühl eine Lanze für die Wut. Hier sind die wichtigsten Erkenntnisse:

„Wut hat viele Funktionen, sie vermittelt klare Grenzen, setzt Warnsignale, befreit von der Spannung, die aus Kränkung entsteht, vermittelt uns selbst präzise Einsichten in unsere Schwachstellen und fordert uns auf zu Veränderung, entweder an uns selbst oder an unseren Lebensumständen. Wut fordert und fördert Lebendigkeit.“

„Wut auf andere kann, wenn sie nach innen gekehrt, verleugnet, verboten wird, zum Parasiten werden und den Wirt unwiderruflich schädigen. Wut, die keinen Adressaten findet oder sich tobend gegen den Empfindenden selbst richtet, ist um nichts gesünder.“

„Es ist eine wesentliche Aufgabe von Erziehung, dem Kind einen angemessenen Umgang mit Wut zu vermitteln. Es sollte aber nicht ihre Aufgabe sein, Wut zu dämonisieren, ihr jeden Wert abzusprechen und sie unter die eigene und die fremde Wahrnehmungsschwelle zu drücken.“

„Wut kann Anlaß und Impulsbegeber sein für Veränderung und damit Verbesserung, sie kann das Verharren im ewig Gleichen durchbrechen und dadurch neue Potentiale und Perspektiven eröffnen.“

„Wut, sich selbst und anderen gegenüber verantwortlich gelebt, ist Zeichen der Lebendigkeit, ist Wille zum Leben mit all seinen nicht immer erfreulichen Facetten; ihre Abwesenheit ist grabesähnliche Ruhe oder ignorante Indifferenz.“

„Wut ist auch eine legitime Methode, mit der unfaßbaren Endlichkeit des Lebens zu Rande zu kommen, sich noch einmal wirklich lebendig zu fühlen, kraftvoll und eigensinnig, stark und einzigartig. Der Dichter Dylan Thomas formulierte es sanft und stark für seinen sterbenden Vater:

Do not go gentle into that good night,
rage, rage against the dying of the light.

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