Seitenblick - Der Newsletter von Odysseus Kinesiologie & Coaching

Maxim Mankevich, ein Revolver und ein genialer Roman

Meine Themen heute für Sie: Maxim Mankevichs „Genius-Workshop“ ist ein erschreckendes Lehrstück in Massenpsychologie | Freud abzuwerten ist immer noch Mode bei Coaches | Leser-Antwort auf meine Lehrer-Schelte | Ein besonderes Beethoven-Konzert | Was bleibt, stiften die Dichter: Der Roman „Anton Reiser“ hat schon 1785 wesentliche Erkenntnisse der Psychologie und Psychotherapie formuliert. … Viel Vergnügen beim Lesen.

Eine Bitte: Wenn Sie jemand kennen, den das, was ich hier erzähle, interessiert, leiten Sie ihm diesen Newsletter weiter. Dankeschön.

Wolfgang Halder, Odysseus Kinesiologie & Coaching

Wie ich (fast) zum Genie wurde ... 

Als Kind wollte ich Pilot werden, als Jugendlicher Film-Regisseur (in der Nachfolge Jean-Luc Godards), als Philosophie-Student war dann Genie mein Lebensziel. Was sonst? Daraus wurde nichts. Doch jetzt hat sich mir die Genie-Laufbahn nochmal aufgetan, durch Maxim Mankevich, den Betreiber der „Genie-Akademie“ – und ich hab’ die Chance ergriffen.

Es wurde ein Griff ins ... Doch der Reihe nach. Von Menschen, denen ich vertraue, wurde mir der „Genius-Workshop“ mit Maxim Mankevich angepriesen. Es sei eine großartige Inspiration, eine Chance, das Genie in mir zu wecken. Gut dreißig Jahre, nachdem ich mein Lebenziel Genie“ aufgegeben hatte, bot sich mir diese Gelegenheit – und das auch noch zum Super-Sonderpreis von 28 Euro.

Ich hatte den Namen Maxim Mankevich nie zuvor gehört. Doch ich war neugierig und dachte mir: Da erlebe ich mal so einen Top-Speaker-Trainer-Coach leibhaftig. Also hab’ ich gebucht, auch wenn das Ganze am Ende der Welt, in Montabaur im Westerwald, stattfand. Für mich ist alles nördlich des Limes Barbaren-Land („Hic sunt leones“, wie es auf alten Landkarten heißt). Aber für meine späte Geniewerdung nahm ich das in Kauf.

Höchstes Lob von den Kollegen

Nahezu jeder, dem ich von dem Workshop erzählte, kannte Mankevich – sein Buch, seine Videos, seinen Instagram-Kanal – und beneidete mich um meine Audienz. Auch die Coach-Trainer-Speaker-Fachwelt ist sich einig, was Mankevich angeht:

  • Nur die allerwenigsten Menschen erreichen das, was Maxim erreicht hat.“ (John Strelecky)
  • Maxim ist ein Segen für jeden, der das Glück hat, ihm zu begegnen.“ (Kurt Tepperwein)
  • Maxim repräsentiert für mich eine in der Trainerszene seltene Kombination aus Kompetenz, Herz und Integrität.“ (Veit Lindau)
  • Er ist klug, aber auch weise. Beeindruckend. Inspirierend. Genial!“ (DieterSchamanen haben mir gesagtLange)

Folgendes Programm für Montabaur verkündete mir Mankevich per E-Mail in seinem „Genieletter“:

  • Verbinde Dich mit Deiner Seelenkraft. Werde kraftvoller, intuitiver & gelassener.
  • Genialität: Lerne die Macht Deines Unterbewusstseins anzuzapfen.
  • Stärke Dein Urvertrauen und gehe selbstbewusst Deinen Weg! 
  • Erlange Tools für Deine persönliche und berufliche Meisterschaft.
  • Lerne klüger zu kommunizieren. Erfahre die besten Strategien für mehr Charisma & Sympathie.

Auf all das war ich nun, in der dritten Reihe im Veranstaltungshaus „Mons Tabor“ in Montabaur sitzend, gespannt. Dann betrat Maxim Mankevich die Bühne – und bei mir geschah: nichts.

Milchgesicht ohne Präsenz

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich im Juni 1983 David Bowie in der Freilichtbühne Bad Segeberg gesehen habe. Ich war weit hinten und oben, sah die Personen auf der Bühne nur als winzige Figuren. Doch als ein kleiner Blonder im weißen Anzug auf die Bühne kam – Bowie! –, war die Welt schlagartig eine andere: die Luft elektrisch, das Leben schön, alles gut. Damals begriff ich, was „Bühnenpräsenz“ bedeutet.

So war es auch bei Miles Davis und Bob Dylan, bei Nikolaus Harnoncourt, Yehudi Menuhin und Claudio Arrau, als ich die auf der Bühne erlebte. Doch mit Maxim Mankevich, der zum Greifen nah vor mir auf der Bühne stand, kam nur ein Bubi auf die Bühne, ein Milchgesicht.

Wie will jemand „Strategien für mehr Charisma“ vermitteln, wenn er selbst keinen Funken Präsenz und kein Gramm Charisma hat? Also strich ich im Geiste den Tagesordnungspunkt „Charisma“, es blieben ja noch genügend andere übrig, z.B. Seelenkraft und vor allem die Genialität, wegen der ich ja in erster Linie da war.

Das hätte eventuell was werden können – wenn Mankevich geschwiegen hätte. Doch er hat gesprochen. Das hätte er nicht tun sollen. Denn alles, was er von sich gab, wirkte wie gestern frisch bei Wikipedia angelesen. Auf solches Fastfood-„Wissen“ sind Speaker-Trainer-Coaches ja besonders stolz …

Mankevich servierte eine lauwarme Vorspeisenplatte aus Bildungstrümmern (Marc Aurel, Paul Watzlawick, Viktor Frankl, Goethe), Banalitäten, Anbiederung („Ich war in einem Kurs bei Eckhart Tolle“) und Eitelkeit („Mein Buch ist das erfolgreichste im Segment Lebenshilfe 2022“).

Meister der Ja-Kette

Er schwadronierte von „erlernter Hilfslosigkeit“ (dreimal mit dem falschen Fugen-s, also kein Versprecher) und prügelte immer wieder auf unseren ach so bösen Verstand ein (Überdosis Tolle!), der uns das Leben schwer mache. Dabei hätte Mankevich eine große Portion Verstand helfen können, nicht so viel Unsinn zu reden.

Maxim Mankevich ist ein Meister der Ja-Kette. Die Ja-Kette wird jedem Versicherungs- und Staubsauger-Vertreter eingebläut, damit er Abschlüsse macht. Das Vorgehen: Einige unwichtige Fragen stellen, die das Gegenüber mit „ja“ beantwortet, denn jedes Ja senkt die Wahrscheinlichkeit eines Nein, so daß das Opfer dieser Manipulation schließlich etwas kauft, was es gar nicht kaufen will. Am Ende solcher Ja-Ketten führen sogar irrsinnige Fragen wie „Wollt ihr den totalen Krieg?“ zu einem begeisterten JA. Joseph G. wußte genau, was er tat …

Beispiel Mankevich: „Habt ihr heute morgen geduscht? JA oder NEIN?“ JA tönt es aus dem Saal. „Kennt Ihr Eckhart Tolle?“ – „JA!“ Alle 2-3 Minuten feuert Mankevich so eine gebrüllte „JA-ODER-NEIN?“-Salve ins Publikum, bis dieses völlig wehrlos ist und ihm aus der Hand frißt.

Zusätzlich verlangt Mankevich bei „ja“ ein Handzeichen vom Publikum – welch souveräne „Kombination aus Kompetenz und Integrität“ (Lobpreis Veit Lindau), wie „weise, beindruckend, inspirierend, genial (Lobpreis Dieter Lange). Der Kindergarten läßt grüßen ...

Es ist ein erschreckendes Lehrstück in Massenpsychologie, das Mankevich hier mit 800 Leuten aufführt. Wie entsetzlich einfach es ist, die Intelligenz von Menschen in einer Gruppe unter ihre Individual-Intelligenz zu drücken. Der Saal gibt Genie-Maxim immer wieder ein tobendes „JA!“ – und der füllt damit selbstgefällig grinsend sein Manipulations-Konto.

Der „geniale“ Höhepunkt: Werthers Revolver

Der sabbernde Masochismus des Publikums wächst mit jeder Minute: „Mach mit uns, was du willst! Wir glauben dir alles!“ ist die Stimmung im Saal. Die Leute sind begeistert, wenn Sie „ja“ schreien dürfen. Jedes Wort der Kritik – ich kann mir ab und an einen Zwischenruf nicht verkneifen – führt zu bösen Blicken.

Als Mankevich dann erzählt, Goethes Werther habe sich 1774 mit einem Revolver erschossen, reißt mir der Geduldsfaden, denn Samuel Colt hat den Revolver erst in den 1830er-Jahren erfunden. Das war's, Maxim. Du hattest deine Chance. Kurz nach dieser Genie-Leistung war Pause und ich bin gegangen. In ein Café um die Ecke.

Dort, bei einem Stück Waldbeeren-Torte und einem Milchkaffee (beides zusammen kostete weniger als ein Kaffee in München – wir sind eben nördlich des Limes, Zivilisation hat ihren Preis), erlebte ich folgende Szene:

Ein Renterpaar am Nebentisch fragt die Kellnerin: „Was ist denn da in der Halle los? Da sind so viele Leute.“ Die Kellnerin: „Da ist ’ne Veranstaltung, in der den Leuten gezeigt wird, wie sie besser miteinander auskommen.“ Darauf der Mann des Paares: „Also Blabla!“ Die Frau ergänzt: „Wir sind jetzt bald fünfzig Jahre zusammen und haben so was nie gebraucht. Es ist ein Geben und Nehmen, das ist das Geheimnis.

Still grinsend genieße ich dieses Dramolett am Nebentisch – und freue mich über den genialen Alltagsverstand dieses Paares. Nördlich des Limes scheint es doch nicht so finster zu sein, wie ich dachte ...

Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. Maxim Mankevichs Schatten ist sehr lang, denn bei uns steht die Kultur-Sonne mittlerweile sehr tief. Das zeigt der Blick auf die „Spiegel“-Bestseller-Liste jede Woche.

Ich bestelle ein zweites Stück Waldbeeren-Torte, rauche eine „Toscanello Giallo“ (ihr Vanille-Duft ist ein Stimmungsaufheller, den ich nach Genie-Maxims Schmierentheater nötig habe) und komme so langsam darüber hinweg, daß es mal wieder nichts war mit meiner Geniewerdung. Vielleicht sollte ich statt dessen Top-Speaker werden?

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Prügelknabe Freud

In der letzten Ausgabe schrieb ich: „Ich mag keine Lehrer“. Die Reaktion einer Lehrerin darauf sehen Sie unten im Beitrag „Eine Lanze für die Lehrer“. Heute setzte ich noch einen drauf und bekenne: „Ich mag keine Coaches.“ Damit meine ich die Blabla-Coaches, die von „Change“ und „Purpose“ und „Next Level Culture“ daher-denglischen (siehe meinen Beitrag dazu).

Sicheres Erkennungsmerkmal eines Blabla-Coaches: Er prügelt auf Freud ein. Das Freud-Schmähen ist eine stabile Mode in Coaching-Kreisen. Es ist identitätsstiftend, denn es lindert das Minderwertigkeitsgefühl, kein richtiger Therapeut zu sein. Verständlich – aber unprofessionell und vor allem töricht.

Ich schreibe das hier, weil ich im Artikel „Das Unbewußte im Coaching“ (Coaching-Magazin) über diese Aussagen zu Freud gestolpert bin: „Ein lösungs- und ressourcenorientierter Coach, der den Klienten nicht nur auf bewußter, sondern auch auf unbewußter Ebene ansprechen will, findet bei Erickson (...) viel Ermutigung, viele Anregungen – während er Freud in der Regel beiseitelassen kann.“

Als Grund führt die Autorin an: „Das Unbewußte erscheint bei Freud als Sitz des Verdrängten: schwer einsichtig, schwer zu erreichen, schwer kontrollierbar. Für die Veränderungsarbeit eine eher bedrohliche Größe.“

Das kommt dabei heraus, wenn man Freud nur aus dritter Hand (also Wikipedia und anderen Pennäler-Quellen) kennt und eine Psychoanalyse-Couch nur aus Woody-Allen-Filmen. Freuds „Traumdeutung“ zu lesen (698 Seiten) überfordert die lösungsorientiert beschränkte Aufmerksamkeitsspanne der meisten, die als Coach unterwegs sind.

Freud nennt ausdrücklich den „Königsweg zum Unbewußten“: Es sind unsere Träume. Kennen Sie Coaches, die mit Träumen arbeiten? Eben! Wer mit Träumen umgehen kann, etwa auch Märchen versteht, für den ist das Unbewußte weder „schwer einsichtig“ noch „schwer zu erreichen“ noch „schwer kontrollierbar“ und schon gar nicht „bedrohlich“.

Vielmehr ist es eine Schatzkammer, die alles enthält, was es braucht, um mit einem Klienten „Veränderungsarbeit“ zu machen. Man muß es nur können …

Sybille Marx, die Autorin des zitierten Artikels, will die Dinge „kontrollierbar“. Das sagt viel über sie. Ein paar Stunden auf der Couch – ganz unkontrolliert frei assoziierend, am besten mit einem „unanständigen“ Traum und ohne den Coaching-Fetisch „Lösungsorientiertheit“ – könnten Frau Marx Klärung darüber bringen, warum ihr Kontrolle so wichtig ist …

Eine Psychoanalyse ist was anderes, als auf Bodenankern herumzuturnen und andressierte zirkuläre Fragen eines Coaches zu beantworten, der früher mal BWler bei Microsoft war und heute ohne jeden kritischen Impuls Führungskräfte „optimiert“.

Meine Empfehlung an alle Coaches: Lesen Sie Freuds Aufsatz „Zeitgemäßes über Krieg und Tod von 1915 und vergleichen Sie ihn mit dem, was in letzter Zeit zum Thema Krieg abgesondert wurde. Dann sehen Sie den Unterschied zwischen präzisem Denken und Erkennen einerseits (Freud) und andererseits dem gedankenfreien Dahermeinen in Zeitgeist-Manier. 

Und nicht zu vergessen: Freud ist – neben Schopenhauer, Nietzsche und Karl Kraus – einer der großen Stilisten der deutschen Sprache. Allein deshalb sollte man ihn lesen. Gerade Leute, die nur noch in „Change- und „Purpose“-Sprachfetzen posten, twittern und facebooken.

Eine Lanze für die Lehrer

In meinem letzten Newsletter kamen im Beitrag Warum nehmen Lehrer sich so wichtig?die Lehrer nicht besonders gut weg. Daraufhin schrieb mir eine Leserin folgenden Brief, den ich hier – auf ihre Bitte hin – gern veröffentliche:

„Beim Lesen Deines Beitrags über Lehrer war ich wütend und traurig zugleich, daß Du eine gesamte Berufsgruppe so in die Tonne trittst. Ich war über 33 Jahre Hauptschullehrerin in verschiedenen Münchner Schulen, habe 8 Jahre im Ausländerbereich unterrichtet, habe selbst eine Tochter durchs Schulsystem gebracht, kenne also den Alltag hautnah.

Aus meiner Praxis kenne ich viele Lehrer, die ihre Haut zu Markte getragen und sich sehr für ihre Schüler eingesetzt haben. Die Arbeit an Haupt- oder inzwischen Mittelschulen verlangt Lehrern alles ab: Sie müssen zusätzlich Sozialarbeiter, Erziehungsberater, Schullaufbahnberater und vieles mehr sein, weil sie sonst die Kinder gar nicht zum Zuhören und Lernen motivieren können.

Eine gute Lehrer-Schülerbeziehung ist die Basis für das gesamte Schulleben.

Es ist schmerzlich ungerecht, die krassen Schwächen des Schulsystems nur den Lehrern anzulasten; sie können das System ja nicht verlassen, sondern nur einen gewissen Freiraum ausnützen.

Zudem werden Lehrer von der Politik und der Gesellschaft im Stich gelassen. Sie sollen die Erziehungsfehler der Eltern ausgleichen, sie vor Alkohol- und Drogenkonsum und den Gefahren der digitalen Räume schützen. In der Coronazeit waren sie mit der digitalen Umsetzung des Unterrichts alleingelassen.

Nie war der Beruf des Lehrers gesellschaftlich so wenig geachtet. Ist es da ein Wunder, daß kaum noch jemand sich dieser schwierigen und dennoch befriedigenden Arbeit stellen will?

Ich sehe die Gründe für die Probleme an Schulen viel tiefer liegen:

  1. Der Staat gibt viel zu wenig Geld für Bildung und Kinderfürsorge aus.
  2. Das Schulsystem, besonders in Bayern, wurde nicht grundlegend erneuert und an heutige Bedürfnisse angepasst.
  3. In den Regelschulen gibt es kein allgemeingültiges Menschenbild wie bei Montessori oder Waldorf.

Glaube mir, die meisten Lehrer arbeiten am äußersten Limit ihrer Kräfte und müssen die vielen ausfallenden Stunden noch mit vertreten.

Ich kann mir nur vorstellen, daß die eigenen schlechten Schulerfahrungen und die schwarze Pädagogik der 50er und 60er Jahre Dich zu dieser vernichtenden Kritik getrieben hat.“

Angela Forster (Hauptschullehrerin und Astrologin)

Tai Chi mit Beethoven

Allen Lesern im Raum München möchte ich ein besonderes Konzert am Muttertag (14. Mai) ans Herz legen. Der Abend mit Beethovens großen Klaviersonaten Pathétique“ (op. 13) und Mondschein“ (op. 27) ist in doppelter Hinsicht besonders:

Erstens, weil die Pianistin Varvara Manukyan (Foto) die Werke nicht auf einem modernen Flügel spielt, sondern auf zwei historisch-rekonstruierten Fortepianos aus der Beethoven-Zeit. Da werden Sie Beethoven ganz anders hören, das kann ich Ihnen versprechen. 
 
Und zweitens ist das Konzert besonders, weil ich das Vergnügen und die Ehre habe, bei der Pianistin Klavierunterricht zu bekommen – nach 30 Jahren Pause hab' ich im März wieder mit dem Klavierspielen begonnen.

Bei Varvara Manukyan ist Klavierspielen wie Tai Chi mit Klängen: Ihr geht es um den natürlichen Fluß – der Finger, der Töne, der Emotionen, des Geistes. So wird Musik eine sprudelnde Quelle des persönlichen Wachstums … Also: Kommen Sie am Muttertag – mit offenen Ohren und offenem Herzen. Ich werde auch da sein.

Ort: München, Gasteig HP8 – Saal X
Konzertbeginn:
19:30 Uhr
Einführung Helmut BalkBeethoven – Schiller. Beethovens Klaviersonaten als intime Kammermusik – ein Abenteuer?“ 18:45 - 19:15 Uhr

Mehr Infos zum Konzert ...

Lesefrucht: „Anton Reiser“ – ein genialer Roman, ganz ohne Mankevich ...

Der Goethe-Zeitgenosse und -Freund Karl Philipp Moritz hat mit seinem Roman „Anton Reiser“ 1785 einen der ersten Viertausender der deutschen Literatur-Geschichte geschaffen, der einen auch heute noch im Mark ergreift. Gegen diesen Orkan der emotionalen Wahrheit sind die derzeit beliebten Stuckrad-Barres, Suters und Hansens eine Blähung der Impotenz auf dem Rollrasen des Doppelhaushäften-Gärtleins heutiger sogenannter Literatur.

Moritz formuliert im „Anton Reiser“ mit der Empfänglichkeit des Dichters, was viel später erst (Entwicklungs-)Psychologie und Psychotherapie systematisch erfassen sollten. Die Kostprobe, die ich Ihnen serviere, führt schon auf den ersten Seiten des Romans
schonungslos die Verwüstungen vor Augen, die Eltern – damals wie heute – so gern im zarten Gemüt eines Kindes anrichten.

In wenigen Sätzen erfaßt Moritz bei seiner autobiografisch gefärbten Romanfigur die Ausbildung eines „falschen Selbst“ (Donald Winnicott), das „unsicher-ambivalent gebundene Kind (John Bowlby, Mary Ainsworth) bis hin zum Drama des begabten Kindes (Alice Miller). Lesen Sie selbst:

„Von Anton kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward. Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen der Eltern.

Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten und ihm doch einer so nahe wie der andre war.

In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln. Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.

Da sein Vater im Siebenjährigen Kriege mit zu Felde war, zog seine Mutter zwei Jahre lang mit ihm auf ein kleines Dorf. Hier hatte er ziemliche Freiheit und einige Entschädigung für die Leiden seiner Kindheit.

Die Vorstellungen von den ersten Wiesen, die er sahe, von dem Kornfelde, das sich einen sanften Hügel hinanerstreckte und oben mit grünem Gebüsch umkränzt war, von dem blauen Berge und den einzelnen Gebüschen und Bäumen, die am Fuß desselben auf das grüne Gras ihren Schatten warfen, mischen sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken und machen gleichsam die Grundlage aller der täuschenden Bilder aus, die oft seine Phantasie sich vormalt.

Aber wie bald waren diese beiden glücklichen Jahre entflohen! Es ward Friede, und Antons Mutter zog mit ihm in die Stadt zu ihrem Manne. Die lange Trennung von ihm verursachte ein kurzes Blendwerk ehelicher Eintracht, aber bald folgte auf die betrügliche Windstille ein desto schrecklicherer Sturm.

Antons Herz zerfloß in Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern unrecht geben sollte, und doch schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr recht habe als seine Mutter, die er liebte.

So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu seinen Eltern hin und her.

Da er noch nicht acht Jahr alt war, gebar seine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun vollends die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen, so daß er nun fast ganz vernachlässiget wurde und sich, sooft man von ihm sprach, mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung nennen hörte, die ihm durch die Seele ging.

Woher mochte wohl dies sehnliche Verlangen nach einer liebreichen Behandlung bei ihm entstehen, da er doch derselben nie gewohnt gewesen war und also kaum einige Begriffe davon haben konnte?

Am Ende freilich ward dies Gefühl ziemlich bei ihm abgestumpft; es war ihm beinahe, als müsse er beständig gescholten sein, und ein freundlicher Blick, den er einmal erhielt, war ihm ganz etwas Sonderbares, das nicht recht zu seinen übrigen Vorstellungen passen wollte.

Er fühlte auf das innigste das Bedürfnis der Freundschaft von seinesgleichen: und oft, wenn er einen Knaben von seinem Alter sahe, hing seine ganze Seele an ihm, und er hätte alles drum gegeben, sein Freund zu werden; allein das niederschlagende Gefühl der Verachtung, die er von seinen Eltern erlitten, und die Scham wegen seiner armseligen, schmutzigen und zerrißnen Kleidung hielten ihn zurück, daß er es nicht wagte, einen glücklichern Knaben anzureden.

So ging er fast immer traurig und einsam umher, weil die meisten Knaben in der Nachbarschaft ordentlicher, reinlicher und besser wie er gekleidet waren und nicht mit ihm umgehen wollten, und die es nicht waren, mit denen mochte er wieder wegen ihrer Liederlichkeit und auch vielleicht aus einem gewissen Stolz keinen Umgang haben.

So hatte er keinen, zu dem er sich gesellen konnte, keinen Gespielen seiner Kindheit, keinen Freund unter Großen noch Kleinen.

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