Kürzlich fragte mich ein Klient beim Erstkontakt am Telefon, ob ich auch Online-Coaching mache. Ich antwortete: „Nein, denn sie hätten nichts davon. Und ich will Ihnen nichts verkaufen, was nur für mich einen Nutzen bringt. Da bin ich ganz altmodisch.“ Er war verdutzt, und ich erzählte ihm in etwa das, was ich hier jetzt schreibe.
Das Netz ist voller Saulus/Paulus-Bekehrungs-Erlebnisse bezüglich Online-Coaching. Coaches erzählen mit flammenden Zungen, wie sie, die sie zuerst sehr skeptisch gewesen seien, in den Corona-Maßnahmen-Jahren notgedrungen mit Online-Coaching begannen, sich mit dem „neuen Normal“ dann arrangierten, um schließlich die digitale Coaching-Simulation als das Non-plus-ultra anzupreisen und zu jubilieren: „Ich will nichts anderes mehr“.
Das ist verständlich, denn die Coaches sind die einzigen, die was vom Online-Coaching haben. Dazu später mehr.
Welche Argumente haben die Verfechter des Online-Coachings? Was da kommt, ist unfaßbar dünn gestrickt und betrifft nur Äußerlichkeiten:
- Klienten könnten flexibel teilnehmen,
- die Sitzungen besser in ihren Alltag einpassen,
- Coaching funktioniere überall, wo Internet sei,
- Klienten hätten die Möglichkeit, Sitzungen aufzuzeichnen,
- und die Klienten hätten keinen Zeitverlust durch Anreise.
Alle Argumente sind oberflächlich organisatorischer Art. Und selbst da greifen manche nicht: Das Argument, mit der Aufzeichnung von Sitzungen sticht nicht, denn man kann auch bei jedem Präsenz-Coaching ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen. Der amerikanische Psychotherapeut Irvin Yalom hat das schon in den 1970er Jahren gemacht. Also kein Punkt fürs Online-Coaching.
Fetisch Bequemlichkeit
Letztlich laufen die angeführten Vorteile auf einen Punkt hinaus: Bequemlichkeit!
Bequemlichkeit ist der Gold-Standard der Online-Welt. Da kann ich nur den Kopf schütteln. Viele Menschen fliegen, ohne mit der Wimper zu zucken, 13 Stunden nach Thailand, um dort zehn Tage Urlaub zu machen, von dem nach kurzer Zeit nur ein paar Fotos, Postings und Erinnerungen übrig sind.
Dieselben Menschen sind nicht bereit, eine halbe oder eine Stunde Anfahrt für ein Coaching aufzuwenden? Ein Coaching, das, wenn es gut läuft, ihr Leben für immer verbessert.
Warum gucken diese Menschen sich Thailand nicht online per Video an? Warum begnügen sie sich beim Urlaub nicht auch mit der digitalen Simulation? Wozu sich die Mühe machen und umständlich hinfliegen? Man sieht online doch alles, was wichtig ist, und bekommt alle Informationen zum Land.
Wer meint, Urlaub müsse in der Realität und mit der ganzen Person stattfinden, bei einem Coaching dagegen sei das egal, der zeigt damit, daß er ein Coaching bitter nötig hat. Ein Coaching, in dem er lernt, Prioritäten zu setzen, ein Coaching, in dem ihm der Unterschied zwischen unreifer, infantiler, schneller und bequemer Befriedigung und wirklicher Bemühung um persönliches Wachstum klar wird.
Wer Kontakt zu sich hat, der begreift schon die Anfahrt zu einem Coaching als eine Art Schleuse, die ihn aus dem Alltag enthebt und ihn bereitmacht für das Wunder, das sich in einer Coaching-Sitzung ereignen kann. Die Ortsveränderung ist eine Art Geburtskanal – das Hockenbleiben vor dem Computer in vertrauter Umgebung ist schon rein äußerlich die Manifestation, daß jemand nichts wirklich verändern will, sich aber trotzdem besser fühlen möchte.
Wer sich keine Zeit nimmt für ein Coaching, der will es nicht wirklich, der macht es nebenher, der hakt es ab wie einen Reifenwechsel-Termin.
Coaching als Kopfschmerz-Tablette
Online-Coaching ist somit Ausdruck eben der krankmachenden Lebensweise, wegen derer Menschen in ein Coaching kommen, weil sie sich Linderung erhoffen: der Mensch als Maschine im Effizienz-Wahn und dem damit verbundenen unbarmherzigen Funktionieren-Müssen.
Da muß auch das Hilfsmittel schnell und bequem sein. Wie eine Kopfschmerz-Tablette. Mit anderen Worten: Online-Coaching verstärkt gerade das, was es lindern sollte und macht den Bock zum Gärtner.
Worauf gründe ich mein Urteil? Auf eigenes Erleben und eigene Erfahrung. Das ist mein Gold-Standard. Ich habe mit mehreren Methoden den Vergleich von echt und online gemacht – nicht als Anbieter, sondern als Teilnehmer. Das Ergebnis war immer gleich: Online gab’s aufgrund des auch hier wirksamen Eliza-Effekts nur eine kurze Befriedigung, doch keine wirkliche Veränderung, schon gar keine Verbesserung. Alles perlte ab wie Regentropfen auf einer frisch imprägnierten Motorhaube. Da ich nie wirklich präsent war, nie wirklich da war, konnte in mir auch nichts geschehen.
Räume leben
Als Coach bemerke ich die Zauberkraft, die von einem Raum ausgehen kann. Wenn ich meinen Praxisraum betrete, ereignet sich mit mir eine Verwandlung: Mein Alltags-Ich setzt sich in die Ecke und gibt Ruhe – mein Kinesiologen/Coach-Ich betritt die Bühne. Und das ist weit gelassener, empathischer, reifer, klüger und weiser als mein Alltags-Ich. Mit meinem Alltags-Ich wäre ich Klienten kaum eine Hilfe für ihr persönliches Wachstum.
Diese Verwandlung erfolgt durch den Raum, der durchdrungen ist von all dem, was sich in ihm ereignet hat. Vor mir wirkte hier eine TCM-Heilpraktikerin, und meine Sessel hab' ich von meiner Psychoanalytikern übernommen, als die sich zur Ruhe gesetzt hat (was diese Sessel schon alles gehört haben ...).
Räume sind aufgeladen mit dem, was in ihnen geschieht. Deshalb sollte man keine Steuerberater-Kanzlei oder Werbe-Agentur in einen Coaching- oder Therapie-Raum umwandeln, denn diese Räume sind gewissermaßen „vergiftet“. Solche Wirkungen kann man messen (wer sich dafür interessiert, dem kann ich gern Literatur nennen).
Gehe ich nicht in meine Praxis, sondern starte mit ein paar Klicks ein Zoom-Meeting in meiner Wohnung, geschieht keine Verwandlung mit mir. Wie auch? Es hat sich ja nichts verändert, alles ist wie immer: Licht, Farben, Düfte, Geräusche, Möbel.
Ich sitze im selben Zimmer am selben Tisch am selben Computer, mit dem ich meine Überweisungen erledige oder ans Finanzamt schreibe. Vor dem Monitor sitzt mein banales Alltags-Ich. Und das kann kaum etwas von dem, was mein Praxis-Ich kann.
Wie wichtig die reale körperliche Anwesenheit für Lernen und persönliches Wachstum ist, wissen wir aus der Säuglings-Forschung. Säuglinge lernen Sprachlaute nur, wenn die Mutter physisch anwesend ist! Kommt die Sprache vom Tonband oder einem Video, bei dem die Mutter sogar zu sehen ist, lernt das Kind – nichts. Für den frühen Spracherwerb ist die körperliche Anwesenheit der Mutter eine Notwendigkeit.
Auch für den Rest unseres Lebens gilt: Körperliche Präsenz wohlwollender Menschen ist ein Lebens- und Gesundheitsmittel ersten Ranges. Einfach da sein genügt oft. In einem Coaching ist körperliche Präsenz eines Menschen notwendige Bedingung für Veränderung und Wachstum in anderen. Online-Coaching gleicht deshalb dem grotesken Versuch, Blumen im Keller mit einer Taschenlampe zum Blühen zu bringen statt ihnen Sonnenlicht zu schenken.
Wer profitiert?
Ich finde es erschreckend, wie erwachsene Menschen für ein bißchen Bequemlichkeit bereit sind, den Kontakt zu sich selbst aufzugeben und die digitale Simulation von Nähe für bare Münze nehmen. Zugleich zeigt es, wie groß die Verzweiflung dieser Menschen ist, daß sie selbst nach diesem Strohhalm greifen.
Wer hat was vom Online-Coaching? Der Anbieter. Er spart sich die Miete für eine Praxis. Er spart sich die Zeit für die Fahrt zur Praxis. Er spart sich die Mühsal, Schuhe anzuziehen und aus dem Haus zu gehen. Er kann zwischen zwei Online-Terminen die Blumen gießen, die Spülmaschine ausräumen und die Katze kraulen. Deshalb liebt er Online-Coaching.
KI als logische Konsequenz
Dämmert es den Online-Coaching-Verfechtern nicht, daß sie sich selbst abschaffen?! Wozu braucht es noch einen Menschen am anderen Ende der Zoom-Verbindung? Wozu umständlich einen Termin vereinbaren, an den man sich dann auch noch halten muß? KI-Systeme machen das schneller und billiger – zudem 24/7, ohne Urlaub, ohne Krankheit. Wer jetzt ja zum Online-Coaching sagt, der sagt ja zur Abschaffung des Menschen im Coaching-Prozeß. KI-Bots können sofort übernehmen (lesen Sie dazu auch den Beitrag „KI als Therapeut? Eine Katastrophe!“ am Ende des Newsletters).
Online-Coaching reduziert Coaching auf die kognitive Dimension – zwei sprechende Köpfe tauschen Informationen aus – und verfehlt damit die Wirklichkeit. Echtes Coaching dagegen ist die Begegnung zweier ganzer Menschen, die in einem realen Raum einen emotionalen Raum schafft, in dem das Leid eines Menschen sich offenbaren darf, um im Kontakt mit einem anderen Linderung zu erfahren.
Für viele Menschen sind Tiefkühl-Pizza, Pommes frites, Softdrinks und Schokoriegel Lebens-Mittel. Jeder, der sein Denken noch nicht vollständig auf Chat-GPT ausgelagert hat, weiß: Dem ist nicht so. Diese Sachen sehen nur aus wie Lebensmittel. So ist es auch beim Online-Coaching.
Online-Coaching verhält sich zu echtem Coaching wie Pornografie zu echtem Sex: Es ähnelt dem, was es simuliert, doch all das, worauf es ankommt, fehlt. Es ist eine Simulation, eine Illusion, eine Selbsttäuschung – eine Lebenslüge. |