Ohne unsere Eltern gäbe es uns nicht. Doch mit unseren Eltern – genauer: durch unsere Eltern – wird uns das Leben oft zur Qual gemacht. Und wir brauchen fast das ganze Leben, um uns von unseren Eltern und dem, was sie uns „vererbt“ haben, zu befreien und einigermaßen heil zu werden. Mit anderen Worten: Allzu oft ist unsere Kindheit das Gefängnis unserer Seele.
Als Kind sind wir unseren Eltern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wir entwickeln notgedrungen Strategien, um trotz dieser Eltern zu überleben. Diese Überlegungen rauschen mir täglich durch den Kopf, wenn ich mit Klienten arbeite und diese mir ihre Lebensgeschichte erzählen.
Dann kommen mir auch stets die großartigen Worte des Wiener Schriftstellers Heimito von Doderer in den Sinn: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.“
Besonders schmerzhaft wurde mir das wieder bewußt, als ich mit dem zehn Jahre alten Mädchen Laura arbeitete. Bei diesem Hausbesuch war ich Zeuge, wie die Mutter ihrer Tochter einen großen Eimer über den Kopf stülpte. Das Handeln der Mutter gilt als normal – „so machen’s doch alle!“ –, und eben das ist das Entsetzliche.
Schon der Beginn des Gesprächs ist bezeichnend. Ich frage Mutter und Tochter, was sie sich von unserer Sitzung wünschen. Die Mutter sprudelt sofort los, die Tochter kommt nicht zu Wort. Als Laura einmal etwas einzuwerfen versucht, unterbricht die Mutter sie harsch mit einem „Laß mich ausreden“, wiewohl sie selbst die ganze Zeit geredet hat. Diese szenische Eröffnung offenbart das ganze Drama von Lauras Kindheit.
Laura hat einige Allergien, ist oft krank, fehlt dadurch häufig in der Schule. Wenn sie Ärger mit anderen hat, sagt in ihr jemand „Mach den kaputt!“. Sie nennt diesen Anteil in sich „Zombiebold“. Er ist schwarz, sitzt im Bauch, schreit und tobt in ihr und trommelt mit den Fäusten von innen gegen ihren Bauch.
Wenn der Zombiebold übernimmt, rastet Laura aus. Sie brüllt herum, schlägt Dinge kaputt. In der Schule geht sie aufs Klo und schreit dort ihre Wut heraus, wenn die Lehrerin sie kritisiert hat. Zuhause brüllt sie in ihr Kopfkissen. Währenddessen fühlt sie sich schlecht, doch hinterher befreit, als wäre eine Last weg.
Ich frage Laura, wer der Chef im Elternhaus ist. „Mama!“ antwortet sie fest und bestimmt. Dieser Chef gestattet keine Aggression, Wut ist geächtet und verboten. Bestraft wird mit Handyverbot und Zimmerarrest.
Auf einer Tafel an der Wand in Lauras Zimmer stehen die Strafen für die verschiedenen „Vergehen“. Laura hat sich diese Liste zu eigen gemacht und betrachtet sich als bestrafenswert.
Sie fühlt sich vollkommen wertlos; nicht wahrgenommen, nicht ernst genommen. Sie ist wehrlos gegen die Übergriffe der Mutter und älteren Schwester, die einfach in ihr Zimmer kommen und in ihren Sachen herumkramen.
In ihrer Verzweiflung richtet Laura ihre blockierte gesunde Aggression, mit der sie ihre Grenzen schützen will, gegen sich selbst, in Form von Allergien und Ausschlägen. Unser Körper ist die Bühne für die Werke, die unsere Seele nicht aufführen darf.
„Der muß weg! Der muß raus!“, sagt Laura mehrmals, als sie mir vom „Zombiebold“ erzählt. „Wie wäre es, wenn er weg wäre?“, frage ich sie. Die Antwort kommt sofort: „Wie bei Oma!“
Oma und Opa respektieren ihre Grenzen. Ist sie bei ihnen, wohnt ein anderer „Bold“ in ihr: der „Glücksbold“. Auch er sitzt im Bauch, er ist gelb, hat blaue Augen und lächelt freundlich. Jenseits des Herrschaftsgebietes der Mutter sind Laura und die in ihr lebenden „Bolde“ andere.
Laura und ich bringen in unserer Sitzung die beide „Bolde“ dazu, miteinander in Kontakt zu kommen, sie befreunden sich sogar. Laura spürt, daß sie den „Zombiebold“ nicht ausrotten muß, sondern, daß er ein sinnvoller Teil von ihr ist. „Zombiebold“ verspricht „Glücksbold“, daß er nicht sofort loswütet, sondern erst mit „Glücksbold“ spricht. Nun ist er nicht mehr allein, hat jemanden, der ihn versteht.
Das wäre ein schöner Anfang, um der kleinen Laura noch mehr Schmerz und Verzweiflung von der Seele zu nehmen. Doch diese Geschichte hat kein Happy End. Die Mutter schreibt mir wenige Tage später, sie wolle keine weiteren Sitzungen für ihre Tochter. Es habe „nichts gebracht“. |