Bildung und Faktenwissen werden oft miteinander verwechselt. Auch kann man belesen sein und zugleich zutiefst ungebildet, weil man nur mit dem Verstand gelesen hat; ohne Leber, ohne Darm, ohne Nieren – und vor allem ohne Herz. Man hat sich gewissermaßen dumm gelesen. Wobei dieses Phänomen immer seltener vorkommt. Heutzutage googelt man sich dumm.
Was Bildung wirklich ist, hat Hermann Hesse in seiner kleinen Schrift „Echte Bildung“ auf den Punkt gebracht. Lesen Sie seine Zeilen mit dem Herzen und mit Liebe, nur dann verstehen Sie sie:
„Echte Bildung ist nicht Bildung zu irgendeinem Zwecke. Sondern sie hat, wie jedes Streben nach dem Vollkommenen, ihren Sinn in sich selbst.
So wie das Streben nach körperlicher Kraft, Gewandtheit und Schönheit nicht irgendeinen Endzweck hat, etwa den, uns reich, berühmt und mächtig zu machen, sondern seinen Lohn in sich selbst trägt, indem es unser Lebensgefühl und unser Selbstvertrauen steigert, indem es uns froher und glücklicher macht und uns ein höheres Gefühl von Sicherheit und Gesundheit gibt, ebenso ist auch das Streben nach Bildung, das heiβt nach geistiger und seelischer Vervollkommnung, nicht ein mühsamer Weg zu irgendwelchen begrenzten Zielen, sondern ein beglückendes und stärkendes Erweitern unseres Bewußtseins, eine Bereicherung unserer Lebens- und Glücksmöglichkeiten.
Darum ist echte Bildung Erfüllung und Antrieb zugleich. Ihr Ziel ist nicht Steigerung einzelner Fähigkeiten und Leistungen, sondern sie hilft uns, unserem Streben, unserem Leben einen Sinn zu geben, die Vergangenheit zu deuten, der Zukunft in furchtloser Bereitschaft offenzustehen.
Von den Wegen, die zu solcher Bildung führen, ist eine der wichtigsten das Studium der Weltliteratur, das Sichvertrautmachen mit dem ungeheuren Schatz von Gedanken, Erfahrungen, Symbolen, Phantasien und Wunschbildern, den die Vergangenheit uns in den Werken der Dichter und Denker vieler Völker hinterlassen hat.
Jedes verstehende Eindringen in ein Denker- oder Dichterwerk von hohem Rang ist eine Erfüllung, ein beglückendes Erlebnis – nicht an totem Wissen, sondern an lebendigem Bewußtsein und Verständnis.
Nicht darauf soll es uns ankommen, möglichst viel gelesen zu haben und zu kennen, sondern in einer freien, persönlichen Auswahl von Meisterwerken, denen wir uns in Freistunden ganz hingeben, eine Ahnung zu bekommen von der Weite und Fülle des von Menschen Gedachten und Erstrebten, und zum Leben und Herzschlag der Menschheit in ein belebendes, mitschwingendes Verhältnis zu kommen. Dies ist schließlich der Sinn des Lebens, soweit es nicht bloß der nackten Notdurft dient.
Keineswegs etwa ,zerstreuen’ soll uns das Lesen, sondern vielmehr sammeln, nicht über ein sinnloses Leben und wegtäuschen und mit einem Scheintroste betäuben, sondern unserem Leben im Gegenteil einen immer höheren, immer volleren Sinn geben helfen.
Der echte Leser muß zum Liebenden werden. Lesen ohne Liebe, Wissen ohne Ehrfurcht, Bildung ohne Herz ist eine der schlimmsten Sünden gegen den Geist.“ |