Seitenblick - Der Newsletter von Odysseus Kinesiologie & Coaching

Lausbuben, das Tor der Bestimmung und allererste Liebe

Meine Themen heute für Sie: Bei ängstlichen Müttern haben's Lausbuben schwer | Haben Sie auch keine Zeit dafür, daß es Ihnen schlecht geht? | Heilsame Schönheit: Bäume tun uns gut | Konzerthuster widersetzen sich der therapeutischen Kraft der Musik | Babies brauchen Frustration: optimale Frustration. Viel Vergnügen beim Lesen.

Eine Bitte: Wenn Sie jemand kennen, den das, was ich hier erzähle, interessiert, leiten Sie ihm diesen Newsletter weiter. Dankeschön.

Wolfgang Halder, Odysseus Kinesiologie & Coaching

Der kastrierte Lausbub

„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.“

An diese Worte des Wiener Schriftstellers Heimito von Doderer – einer meiner Lieblinge – mußte ich kürzlich denken, als ich im Café „Gans am See“ im Münchner Westpark saß. Das ist kein Tanten-Café mit Rüschendeckchen, sondern ein rustikales Freiluft-Etablissement; eine Mischung aus Abenteuerspielplatz und Hausbesetzer-Nostalgie der 1980er Jahre: Sperrmüllmöbel aller Epochen, Stapler-Paletten als Gestaltungslemente, Küche im Bauwagen, Kuchen nur vegan ... 

Unter den Gästen sind viele junge Mütter und Elternzeit-Väter mit Vollbart und vor die Brust geschnalltem Kind.

Ein guter Ort, um nur dazusitzen, auf den See zu schauen und zu hören, worüber die Menschen reden. Ich bin in Cafés dieser verdächtige Typ, der nur dasitzt, Kaffee trinkt und nicht auf seinem Smartphone herumdaddelt ...

Es begab sich in diesem Café folgende Szene: Eine Mutter setzt sich mit ihrem vier Jahre alten Sohn an den Nebentisch. Der Kleine trägt ein weißes T-Shirt mit der knallroten Aufschrift Lausbub!Genau das sollte ein Vierjähriger sein: ein Lausbub. Nicht brav, nicht lieb, nicht nett, nicht folgsam. Mit einem Wort: gesund.

In diesem Alter will ein Junge vor allem eines: die Welt erkunden. Mit eigenen Händen und Sinnen. Jeder Stein am Boden ist aufregend, jeder Käfer verheißt ein Abenteuer, jede Ritze ruft: „Steck was in mich hinein und schau, was dann passiert“.

Mama trinkt ihren Hafermilch-Kaffee, während sie auf ihr Smartphone starrt, der Junge nippt kurz an seiner Apfelschorle und springt dann auf. Er ist nicht zum Herumsitzen hier. Kaum ist er drei Meter entfernt, um die Gegend zu erkunden, ertönt der Ruf der Mutter: „Timo!“ – wenigstens kein Max, denke ich; Max ist der Schrecken der Münchner Kindergärtnerinnen: sie rufen „Max“, und mindestens fünf Buben schauen auf – „Timo! Geh nicht so weit weg!“

Der „Lausbub“ Timo folgt brav dem Befehl der Mutter. Er kennt sie. Also setzt er seine Welterkundung an Ort und Stelle fort – mit dem Bau eines Kieselsteinberges. Der wächst rasch. Als Mama kurz von ihrem Smartphone aufschaut – es gab was Aufregendes bei Insta –, sieht sie die sich anbahnende Katastrophe und interveniert: „Timo! Nicht da, da gehen die Leute!“

Der „Lausbub“ Timo gehorcht erneut. Er dreht sich um, sieht eine Palette hinter sich. Die hat aufregende Schlitze zwischen den Brettern, in die man was hineinstecken kann. Das wird nun erforscht.

Diese Palette ist wie ein Montessori-Arbeitsmaterial, denn sie gibt dem Kind unmittelbar und fühlbar Rückmeldung über Erfolg und Mißerfolg seines Tuns: Paßt der Stein durch die Ritze oder nicht? Was, wenn nicht? Genügt es, ihn zu drehen? Hilft starkes Drücken oder Draufhauen?

Das mit dem Draufhauen funktioniert. Timo ist stolz auf sich, stolz darauf, daß er es geschafft hat, den sperrigen Stein auf die andere Seite der Palette zu befördern. Doch der Lärm hat Mama alarmiert. Erneut muß sie widerwilig ihre Aufmerksamkeit von Facebook ab- und ihrem Sohn zuwenden „Timo! Nichts da reinstopfen. Und mach nicht so einen Krach!“

Der „Lausbub“ Timo beendet folgsam seine Paletten-Forschung und blickt sich gleichermaßen genervt (blöde Mama) wie neugierig (seine Kindnatur) um, was es hier sonst noch Spannendes gibt. Und er erspäht gleich etwas: einen großen Zweig am Boden, zwei Tische weiter. Los geht’s, den will er haben. Sie wissen, was kommt! „Timo! ...“

So ging es noch ein Weilchen weiter mit den verhinderten Abenteuern aus dem Leben eines Lausbuben.

Mama ist mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei ihrem erstgeborenen Lieblingskind namens Social Media, muß sich aber leider immer wieder mit dieser hyperaktiven Nervbacke Timo herumschlagen, der einfach nicht still und brav auf seinem Stuhl sitzen will.

Mama, Ende Dreißig, braucht ihre Ruhe, damit sie sich hochkonzentriert anschauen kann, was die zwanzigjährige Influencerin Sweety Wichtiges zu Kindererziehung verkündet. Das muß er doch verstehen, der Unruhegeist von Sohn ...

Beim Kauf des Lausbuben-T-Shirts folgte die Mutter einem gesunden Instinkt. Doch dann hat ihre Angst- und Kontrollabteilung übernommen, die das freche T-Shirt zur Farce macht.

Das also ist der Eimer, den diese Mutter ihrem Sohn tagtäglich über den Kopf stülpt und dessen Ermahnungs- und Verbotssoße an dem Buben das ganze Leben lang herunterrinnt. Vielleicht sehe ich den Jungen in 20 Jahren in meiner Praxis wieder, wenn er sein Studium geschmissen hat und sein Leben nur noch bekifft ertragen kann ...

*** Daß das gegenteilige Erziehungsextrem ebenfalls schädlich für Kinder ist, davon handelt der Beitrag „All you need is love? Von wegen!“ am Ende dieses Newsletters. ***

Ich bin unwichtig!

„Ich hab’ keine Zeit dafür, daß es mir schlecht geht!“ seufzt die Klientin – und ist sich der Verdrehtheit ihrer Bemerkung kaum bewußt. Selbst fürs Schlechtgehen fehlt ihr die Zeit. Weil an allen Ecken und Enden ihrer Existenz an ihr gezerrt und von ihr abgebissen wird.

Ihr Leben sieht aus wie Berlin 1945: ein Trümmerfeld, so weit das Auge reicht. Die Ehe kaputt; ihr eigener Anwalt schadet ihr durch seine Unfähigkeit im Scheidungskrieg; die pubertierenden Kinder produzieren einen Tumult nach dem anderen, bis hin zu Drogenbesitz und Gefängnis; in der Arbeit projiziert eine überforderte Vorgesetzte ihre Unsicherheit auf die Mitarbeiter; das Haus ruft nach Sanierungen, die zu viel Geld, Arbeit und Nerven kosten; das Auto zickt herum; die Osteoporose klopft lautstark an die Tür; und auch mit dem Geliebten, der etwas Lebensfreude spenden sollte, gibt es nur Streß.

Die Klientin mußte von Kindesbeinen an funktionieren. Nun kommt sie an ihre Grenzen, die sie über die Jahre immer weiter hinausgeschoben hat. Sie hat einen Raubbau mit sich getrieben, den sie einem anderen Menschen niemals zugemutet hätte – weil er nicht zumutbar ist. Ihr unfreiwilliges Lebensmotto: „Ich bin unwichtig!“

Nun streiken Seele, Geist und Körper. Beim kinesiologischen Muskeltest ist sie völlig blockiert. Nichts geht. Sie ist nicht testbar.

In meiner Anfangszeit als Kinesiologe kam bei mir in solchen Fällen die Panik hoch: Verdammt, der Muskeltest funktioniert nicht! Der Klient ist total blockiert. Was soll ich jetzt machen? Mein Werkzeug, der Muskeltest, geht nicht. Ich steh da wie ein Koch ohne Töpfe und Pfannen, soll aber ein Menü servieren! Was nun?

Doch mittlerweile weiß ich: Unser System – die Einheit aus Körper, Seele und Geist – gibt auch dadurch Auskunft, daß es keine Auskunft gibt. Die Botschaft lautet: Laß mich bloß in Frieden! Jede Anstrengung ist zu viel. Verlange nichts! Erwarte nichts! Schon gar nicht irgendeine Antwort auf die Frage, warum das so ist!

Also höre ich auf zu testen. Hier geht es nur um nähren und halten und darum, die Klientin in ihre Mitte zu führen, wo sie zur Ruhe kommen und Kraft schöpfen kann. In unserer Mitte ist der Bauchnabel, unser Ozean des Lebens, denn durch ihn wurden wir während der neun Monate im Bauch der Mutter mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Ihm gegenüber auf dem Rücken haben wir quasi einen Rückennabel; der liegt zwischen den Nieren und hat den schönen Namen „Tor der Bestimmung“.

Durch diesen Punkt kommen wir in Kontakt mit unserem Lebenszweck, also mit dem, was wir sein könnten, statt dem, was wir sind. Das ist das große Thema der Klientin: Sie lebt nicht ihr Leben, sondern wird gelebt durch die Ansprüche anderer an sie. Die natürliche Entwicklung ihres Wesens ist behindert. Die Fremdbestimmung dominiert. Das macht krank und unglücklich.

Ich mache mit der Klientin eine Nabelbalance, halte ihr Bauch- und Rückennabel und führe sie in die Selbstwahrnehmung, für die sie sonst genauso wenig Zeit hat wie fürs Schlechtgehen. Der Kontakt mit sich selbst ist der erste Schritt des Heilwerdens.

Es braucht noch viele weitere Schritte, damit die Klientin ins Leben kommt – in ihr Leben – und nicht nur funktioniert. Dann ist sie wichtig.

Heilsame Schönheit: Bäume

„Ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorübergehen kann und nicht beglückt sein, daß man ihn sieht?“, sagte Dostojewski. So geht’s mir auch. Deshalb zeige ich Ihnen hier besonders beglückende Bäume, an denen ich vorübergegangen bin. 

Bergahorn

Das frische Grün dieser jungen Birke strahlt uns besonders intensiv an, weil zu ihren Füßen der letzte Schnee dahinschmilzt. Kontraste sind Leben. Wasser nährt Holz. Und dieses Holz nährt unser Feuer. Diese Birke lebt nach denselben Prinzipien wie wir.
Bei Unterammergau

K.k.K.Kommentare kluger Kinesiologen

„Alle Leute, die in Konzerten husten und die wir getestet haben, haben wenig Lebensenergie. Ihnen fehlt der Wille zur Gesundheit. Ihr Husten besagt: ‚Ich will gar nicht gesund sein’. Sie lassen sich von der Musik nicht heilen. Sie widersetzen sich der therapeutischen Kraft der Musik. Zudem neigen solche Menschen nicht nur dazu, ihre eigene Therapie zu sabotieren, sondern auch die der anderen Zuhörer.“
John Diamond

Lesefrucht: All You Need Is Love? Von wegen!

Als ich zum ersten Mal von der „optimalen Frustration“ hörte, war ich zutiefst verblüfft, denn damals verbuchte ich „Frustration“ noch unter „negativ“ und „möglichst zu vermeiden“. Ich war also noch naiv, mithin blind für die Wirklichkeit.

Ein Leben ohne Frustration ist wie ein Tag ohne Nacht, wie leise ohne laut, wie warm ohne kalt: ein lebensfeindliches Unding, ein harmoniesüchtiges Sozialarbeiter-Hirngespinst.

Daß beim Umgang mit Kindern Frustration gesund und „ausreichend gut“ besser als „perfekt“ ist, das zu begreifen braucht seine Zeit. Ich baue Ihnen hier eine Abkürzung zu dieser wichtigen Einsicht, in Gestalt von Anne-Ev Ustorfs Buch „Allererste Liebe. Wie Babies Glück und Gesundheit lernen“ .

Das lege ich allen werdenden Eltern und auch denen die, die es schon sind, ans Herz. Vor allem den Frauen, die die „perfekte Mutter“ sein wollen und sich mit Schuldvorwürfen überhäufen, wenn sie glauben, diesen Ansprüchen nicht gerecht zu werden.

Ustorf fasst auf rund 200 Seiten sehr gut lesbar den Stand des Wissens zu diesem Thema zusammen. Sie hat nun das Wort:

„Experten sind sich seit Jahrzehnten einig, daß eine ‚gute‘ Mutter zwar feinfühlig sein sollte, aber nicht besser als ‚gut genug‘. Denn eine Mutter, die in der Beziehung zu ihrem Kind immerwährende Harmonie anstrebt, läuft Gefahr, ihrem Sprößling in seiner Entwicklung ungewollt zu schaden

Dies mag paradox klingen, vor allem in Zeiten, in denen uns die Medien nahezu täglich über mißhandelte und mißachtete Kinder informieren – und in denen sich Eltern vielleicht mehr denn je unter Druck setzen, ‚gute Eltern‘ zu sein: Sie lesen Erziehungsratgeber, buchen PEKIP-Kurse und haben dennoch ein Dauerabo auf ein schlechtes Gewissen.

Viele Kinderpsychologen jedoch sehen im sogenannten too good mothering nicht nur eine extreme Form der Verwöhnung, sondern auch eine Form der emotionalen Vernachlässigung.

Ein kleines Maß an Frust tut selbst Babies schon gut. Irgendwann in den ersten sechs Monaten beginnen Mütter, ihre Babies kurzen Momenten der Unzufriedenheit auszusetzen und lassen sie kurz mal quengeln. Dadurch eignet sich das Kind wichtige Fähigkeiten an: Es erfährt, daß seine Bedürfnisse nicht immer sofort erfüllt werden können und lernt notgedrungen, seine inneren Spannungszustände bis zu einem bestimmten Grad selbst zu regulieren.

Außerdem erfährt das Kind, daß andere Menschen nicht dieselben Bedürfnisse wie es selbst haben. ‚Optimale Frustration‘ nannte der Kinderpsychologe Donald Winnicott diesen Vorgang.

Heute vertreten so gut wie alle Kinderpsychologen die These von der ‚optimalen Frustration’. Denn für Babies ist es äußerst wichtig, negative Gefühlserfahrungen zu machen, um mit eben diesen Gefühlen umgehen zu können und sich selbst beruhigen zu lernen.

Alle Eltern, die ihr Baby gelegentlich quengeln lassen, weil sie einfach eine Pause brauchen, werden nun erleichtert aufatmen: Sie tun genau das Richtige. Perfekt Eltern hingegen, die ihrem Baby jeden Wunsch von den Lippen ablesen und es nicht ertragen können, wenn ihr Kind unzufrieden ist, laufen trotz bester Absichten Gefahr, ihren Kindern damit zu schaden.

Winnicott selbst stellte der ‚hinreichend guten Mutter‘ (good enough mother) die ‚zu gute Mutter‘ (too good mother) gegenüber, die alle Bedürfnisse ihres Kindes auf der Stelle zu befriedigen versucht und das Baby bereits beruhigt, während ein Gefühl oder Bedürfnis bei ihm noch im Entstehen ist. Sie nimmt ihrem Kind damit die Möglichkeit, selbst herauszufinden, was es fühlt.

Ab wann können Eltern ihrem Baby ein gewisses Maß an Frust und Unzufriedenheit zumuten? Noch nicht von Anfang an. Neugeborene sind noch nicht fähig zu solchen Lernerfahrungen. In den ersten Wochen oder Monaten sind die Bedürfnisse des Kindes noch viel zu intensiv und drängend.

Ob Hunger oder Müdigkeit, eine volle Windel oder Langeweile – das Kind versteht selbst noch nicht, was los ist und vermag nicht lange zu warten. Es nützt also nichts, ein Baby zu rigiden Stillabständen von vier Stunden erziehen zu wollen – diese Art der Pädagogik geht völlig an den Bedürfnissen des Kindes vorbei.

Irgendwann innerhalb der ersten drei oder vier Monate kann es dem Kind dann zugemutet werden, kurz frustriert zu werden.“

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