„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.“
An diese Worte des Wiener Schriftstellers Heimito von Doderer – einer meiner Lieblinge – mußte ich kürzlich denken, als ich im Café „Gans am See“ im Münchner Westpark saß. Das ist kein Tanten-Café mit Rüschendeckchen, sondern ein rustikales Freiluft-Etablissement; eine Mischung aus Abenteuerspielplatz und Hausbesetzer-Nostalgie der 1980er Jahre: Sperrmüllmöbel aller Epochen, Stapler-Paletten als Gestaltungslemente, Küche im Bauwagen, Kuchen nur vegan ...
Unter den Gästen sind viele junge Mütter und Elternzeit-Väter mit Vollbart und vor die Brust geschnalltem Kind.
Ein guter Ort, um nur dazusitzen, auf den See zu schauen und zu hören, worüber die Menschen reden. Ich bin in Cafés dieser verdächtige Typ, der nur dasitzt, Kaffee trinkt und nicht auf seinem Smartphone herumdaddelt ...
Es begab sich in diesem Café folgende Szene: Eine Mutter setzt sich mit ihrem vier Jahre alten Sohn an den Nebentisch. Der Kleine trägt ein weißes T-Shirt mit der knallroten Aufschrift „Lausbub!“ Genau das sollte ein Vierjähriger sein: ein Lausbub. Nicht brav, nicht lieb, nicht nett, nicht folgsam. Mit einem Wort: gesund.
In diesem Alter will ein Junge vor allem eines: die Welt erkunden. Mit eigenen Händen und Sinnen. Jeder Stein am Boden ist aufregend, jeder Käfer verheißt ein Abenteuer, jede Ritze ruft: „Steck was in mich hinein und schau, was dann passiert“.
Mama trinkt ihren Hafermilch-Kaffee, während sie auf ihr Smartphone starrt, der Junge nippt kurz an seiner Apfelschorle und springt dann auf. Er ist nicht zum Herumsitzen hier. Kaum ist er drei Meter entfernt, um die Gegend zu erkunden, ertönt der Ruf der Mutter: „Timo!“ – wenigstens kein Max, denke ich; Max ist der Schrecken der Münchner Kindergärtnerinnen: sie rufen „Max“, und mindestens fünf Buben schauen auf – „Timo! Geh nicht so weit weg!“
Der „Lausbub“ Timo folgt brav dem Befehl der Mutter. Er kennt sie. Also setzt er seine Welterkundung an Ort und Stelle fort – mit dem Bau eines Kieselsteinberges. Der wächst rasch. Als Mama kurz von ihrem Smartphone aufschaut – es gab was Aufregendes bei Insta –, sieht sie die sich anbahnende Katastrophe und interveniert: „Timo! Nicht da, da gehen die Leute!“
Der „Lausbub“ Timo gehorcht erneut. Er dreht sich um, sieht eine Palette hinter sich. Die hat aufregende Schlitze zwischen den Brettern, in die man was hineinstecken kann. Das wird nun erforscht.
Diese Palette ist wie ein Montessori-Arbeitsmaterial, denn sie gibt dem Kind unmittelbar und fühlbar Rückmeldung über Erfolg und Mißerfolg seines Tuns: Paßt der Stein durch die Ritze oder nicht? Was, wenn nicht? Genügt es, ihn zu drehen? Hilft starkes Drücken oder Draufhauen?
Das mit dem Draufhauen funktioniert. Timo ist stolz auf sich, stolz darauf, daß er es geschafft hat, den sperrigen Stein auf die andere Seite der Palette zu befördern. Doch der Lärm hat Mama alarmiert. Erneut muß sie widerwilig ihre Aufmerksamkeit von Facebook ab- und ihrem Sohn zuwenden „Timo! Nichts da reinstopfen. Und mach nicht so einen Krach!“
Der „Lausbub“ Timo beendet folgsam seine Paletten-Forschung und blickt sich gleichermaßen genervt (blöde Mama) wie neugierig (seine Kindnatur) um, was es hier sonst noch Spannendes gibt. Und er erspäht gleich etwas: einen großen Zweig am Boden, zwei Tische weiter. Los geht’s, den will er haben. Sie wissen, was kommt! „Timo! ...“
So ging es noch ein Weilchen weiter mit den verhinderten Abenteuern aus dem Leben eines Lausbuben.
Mama ist mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei ihrem erstgeborenen Lieblingskind namens Social Media, muß sich aber leider immer wieder mit dieser hyperaktiven Nervbacke Timo herumschlagen, der einfach nicht still und brav auf seinem Stuhl sitzen will.
Mama, Ende Dreißig, braucht ihre Ruhe, damit sie sich hochkonzentriert anschauen kann, was die zwanzigjährige Influencerin Sweety Wichtiges zu Kindererziehung verkündet. Das muß er doch verstehen, der Unruhegeist von Sohn ...
Beim Kauf des Lausbuben-T-Shirts folgte die Mutter einem gesunden Instinkt. Doch dann hat ihre Angst- und Kontrollabteilung übernommen, die das freche T-Shirt zur Farce macht.
Das also ist der Eimer, den diese Mutter ihrem Sohn tagtäglich über den Kopf stülpt und dessen Ermahnungs- und Verbotssoße an dem Buben das ganze Leben lang herunterrinnt. Vielleicht sehe ich den Jungen in 20 Jahren in meiner Praxis wieder, wenn er sein Studium geschmissen hat und sein Leben nur noch bekifft ertragen kann ...
*** Daß das gegenteilige Erziehungsextrem ebenfalls schädlich für Kinder ist, davon handelt der Beitrag „All you need is love? Von wegen!“ am Ende dieses Newsletters. *** |