Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München ist die Welt noch in Ordnung. Das durfte ich im Januar als Teilnehmer einer Studie erleben. Der Leiter dieser Studie, ein dynamischer, gut aussehender Arzt Ende Dreißig mit voll tönender Stimme wäre eine Traumbesetzung für jede Arzt-Serie. Er begrüßte mich und führte mit mir das Einleitungs- und Schlußgespräch.
Den Rest erledigte eine Schar von Doktorandinnen und Studentinnen: fleißige, überangepaßte Mädchen, die mit leiser Stimme sprechen, es jedem recht machen wollen und die Augen niederschlagen, wenn man sie etwas länger ansieht.
Als sie mich zum Sexualverhalten befragten, brach ihnen vor Verlegenheit die Stimme, und bei meinen Antworten erröteten sie, als seien sie einem Jane-Austen-Roman entsprungen. Die Welt ist doch nicht so verdorben, wie man nach einer halben Stunde Herumklicken auf Instagram oder Tiktok zu glauben geneigt ist ...
Das Max-Planck-Institut (MPI) betreibt in München seit 1917 das Institut für Grundlagenforschung zu Psychiatrie und Neurobiologie. In der aktuell laufenden Studie namens „BeCOME“, an der ich teilnahm, werden die „biologischen Grundlagen streßbedingter psychischer Beschwerden“ erforscht.
Ziel ist es, herauszufinden, an welchen Meßwerten man streßbedingte psychische Beschwerden sicher erkennen kann, damit Diagnosen zukünftig nicht mehr mühsam und zeitaufwendig von sprechenden Menschen mit Erfahrung gestellt werden müssen, sondern schnell und automatisiert von KI-Systemen.
Vom Stand der Wissenschaftsentwicklung aus betrachtet ist das tiefstes 19. Jahrhundert. Ein naiv gestrickter Reduktionismus, der für seelisch-geistige Vorgänge ein materielles Substrat sucht. Das ist das „Nichts-weiter-als“-Denken, also folgende Denkfigur: Ein Phänomen – z.B. das Gefühl der Trauer oder der Gedanke „Ich will Medizin studieren“ – ist nichts weiter als die Ausschüttung von Hormon X zusammen mit einer Aktivität Y im Gehirn plus dem Hautwiderstandswert Z. Nur, was man messen kann, existiert.
Ein berühmtes Beispiel für diese Weltsicht ist der Ausspruch des russischen Kosmonauten Juri Gagarin, der, als er 1961 als erster Mensch im Weltraum war, sich in alle Richtungen umsah und dann feststellt: „Ich habe keinen Gott im Weltall getroffen!“
Die Haltung „Wir behandeln Symptome – keine Menschen“ wird mit den Zielen der MPI-Studie konsequent auf die KI-Spitze getrieben.
Warum mach ich bei so etwas mit? Aus Neugier und Wißbegierde. „Streßbedingte Beschwerden“ sind für mich doppelt interessant: für meine Arbeit als Kinesiologe und Coach, denn Streß spielt überall eine Rolle – bei Schlafstörung, Neurodermitis, Krebs oder Kinderwunsch –, und für mich persönlich, weil ich mich über jeden Hinweis freue, mit dem ich die Streß-Auswirkungen auf mein Befinden besser verstehen und meinen Streßpegel möglichst niedrig halten kann.
Drei Tage lang wurde ich von den MPI-Leuten in allen Himmelsrichtungen vermessen und quantifiziert: Blut, EKG, EEG, Hautwiderstand, Magnetresonanztomographie (MRT), Speichel, Eye-Tracking. Hinzu kamen viele Gespräche und sehr viele Fragebögen.
„Grundgütiger!“ sagte der leitende Arzt, wenn er sehr erstaunt war. Was bei seinem Alter komisch wirkte. Er hat wohl länger bei der Oma gelebt, denn „Grundgütiger“ ist weder eine Vokabel seines 1980er-Jahrganges noch eine seiner Baby-Boomer-Eltern. Ein Beispiel:
Arzt: „Was für Medikamente nehmen sie?“ Ich: „Keine.“ Arzt (ungläubig): „Wirklich gar keine!? Auch keine Schmerzmittel?“ Ich: „Nein.“ Arzt: „Grundgütiger!“
Allein, daß diese Tatsache Erstaunen bei ihm auslöst, ist bezeichnend. Regelmäßig Medikamente einzunehmen gilt heute als Normalzustand. Morgens eine „Ibu“, abends eine „Para“ – das gehört zum modernen Leben ...
Bei den Befragungen und Tests gab es mehrere Vorkommnisse, die mich grundsätzlich an den „Erkenntnissen“ der Studie zweifeln lassen. Warum? Weil die Wirklichkeit nicht abgebildet wurde, um sie zu verstehen, was die Essenz guter Wissenschaft ist. Vielmehr wurde die Wirklichkeit gewaltsam ins vorgegebene Prokrustes-Bett des Studien-Settings gezwungen. Das, was verstanden werden soll, wird nicht zur Kenntnis genommen, weil es dem vorgegebenen Auswertungsraster nicht entspricht. Dazu drei Beispiele:
Erstens: Zwischen dem ersten und dem zweiten Studientag lagen zwei Wochen. Nach Ablauf der zwei Wochen wurde ich befragt, wie es mir ergangen ist. Da die Fragen des ersten Tages ans Eingemachte gegangen waren und sehr viel in mir aufgewühlt hatten, ging es mir in der ersten Woche miserabel. Ich gab der ersten Woche also eine 1, „sehr schlecht“. In der zweiten Woche hab ich mich rasch stabilisiert und war bald bei 9 von 10 möglichen Punkten.
Doch zwei Bewertungen sind für die beiden Wochen nicht vorgesehen! Das Programm, mit dem ausgewertet wird, hat nur ein Feld für einen Wert. Also soll ich einen Mittelwert nehmen. Ich protestierte, denn zu keinem Zeitpunkt hatte ich den Mittelwert 5, doch vergeblich – ins System, das Forschungserkenntnisse liefern soll, wurde eine nie existent gewesene 5 eingegeben.
Wenn ich meine linke Hand in Eiswasser halte und die rechte in 80 Grad heißes Wasser, erfriert meine Linke, und an meiner Rechten löst sich das Fleisch von den Knochen. Beide Hände sind zerstört. Der rechnerische Mittelwert suggeriert dagegen eine angenehme Temperatur von 40 Grad, die es aber nie gab. Hier findet also eine Verfälschung der Wirklichkeit statt.
Zweitens: Bei Fragen zum Thema Trauma werde ich ausgebremst, weil meine Erfahrungen gemäß MPI-Vorgaben gar nicht interessieren. Das MPI erfaßt unser Leben erst ab der Geburt. Daß wir die neun Monate vor der Geburt auch schon leben und daß diese Zeit extrem prägend für uns ist, hat man beim MPI nicht auf dem Schirm.
Mein Zwillingsbruder starb in der 9. Schwangerschaftswoche. Direkt neben mir im Mutterleib. Seine Haut an meiner Haut. Ich spürte seinen Herzschlag. Und plötzlich – von jetzt auf nachher! – rührte er sich nicht mehr. Dieser Schock, daß ein geliebtes Wesen einfach so weg ist, prägt mein Leben bis heute.
Meine Aussagen, die auf diese Zeit vor der Geburt eingehen, kann die MPI-Forschung nicht erfassen. „Tut mir leid, wir beginnen erst mit der Geburt“, sagt mir die Mitarbeiterin und geht routiniert zur nächsten Frage weiter. Eine Reflexion über den Sinn dieser Verfälschung der Wirklichkeit findet nicht statt.
Drittens: Nach einem Streßtest im MRT, ich mußte Kopfrechnen, sollte ich Fragen zu meinem Gemütszustand mit einer Skala von 1 („gar nicht“) bis 6 („voll und ganz“) bewerten. Eine Frage lautete: „Fühlen Sie sich selbstsicher/selbstzufrieden?“ Da das für mich zwei völlig unterschiedliche Begriffe sind, antwortete ich: „selbstsicher“ eine 6 und „selbstzufrieden“ eine 1.
Prompt kam über Kopfhörer die Anweisung: „Das geht nicht, Sie müssen einen Wert nehmen. Wenn Sie sie sich nicht entscheiden können, nehmen sie den Mittelwert.“ Doch dieser Mittelwert ist wie im ersten Beispiel ein sinnloser Wert, da ich nie in diesem Zustand war. Auch hier: Wirklichkeitsverfälschung statt -erforschung.
Die Testsituation im Magnetresonanztomographen ist zudem extrem: Ich bin gefangen, ich kann mich nicht bewegen, ich darf nicht mal tief atmen, weil sonst die Aufnahme verwackelt, hinzu kommen die lauten kreischenden Töne, die das Gerät von sich gibt. Alles in allem eine vollkommen unnatürliche Situation, fast schon ein Folter-Zustand, bei dem vieles in mir nicht so funktioniert wie unter normalen Umständen, das spürte ich mit jeder Faser.
Was wird da also gemessen? Zumal mein Zustand außerhalb des MRT als Referenzpunkt nicht vorliegt und prinzipiell nicht vorliegen kann. Man mißt mithin immer ein pathologisches Verhalten, nämlich eines, das nur im MRT stattfindet. Was ist so eine Messung wert?
Unfaßbar ist für mich auch, daß es in den Fragebögen des MPI tatsächlich noch den „Selbstmord“ gibt, dieses christliche Sündenkonstrukt, das in der Wissenschaft nichts verloren hat.
Mein Fazit: Wenn ich hinfort lese, die Studie X habe das Ergebnis Y, dann genieße ich diese angeblichen Forschungs-Erkenntnisse mit größter Vorsicht, denn sie sagen womöglich nur etwas über die Wissenschaft aus, aber nichts über die Wirklichkeit des Menschen. Doch gerade die interessiert mich. |